Klaus Reinhardt, Herausgeber des Neu-Isenburger Extrablatts, traf den bekannten dänischen Architekten und Städteplaner Jan Gehl zum Interview. Schwerpunkt war die Frage: Woran erkennt man die Lebensqualität einer Stadt?
Herr Gehl, woran erkennt man die Lebensqualität einer Stadt?
Es gibt einen sehr simplen Anhaltspunkt. Schauen Sie, wie viele Kinder und alte Menschen auf Straßen und Plätzen unterwegs sind. Das ist ein ziemlich zuverlässiger Indikator. Eine Stadt ist nach meiner Definition dann lebenswert, wenn sie das menschliche Maß respektiert. Wenn sie also nicht im Tempo des Automobils, sondern in jenem der Fußgänger und Fahrradfahrer tickt. Wenn sich auf ihren überschaubaren Plätze und Gassen wieder Menschen begegnen können. Darin besteht schließlich die Idee einer Stadt.
Was müssen Architekten und Stadtplaner tun, um die Menschen wieder auf die Straßen zu bringen?
Sie sollten ihre Häuser und Städte für Menschen planen.
Wir dachten immer, das täten sie bereits.
Falsch. Die meisten neuen Gebäude und Stadtviertel ignorieren den menschlichen Maßstab, was Sie an ihren aufgeblähten Dimensionen ablesen können: Gebäude, Straßen und Plätze werden immer größer. Jene, die sie benutzen, die sie schätzen und die sich in ihnen wohlfühlen sollen – also wir –, sind aber immer noch genauso klein wie seit eh und je. Auf diese Weise entstehen Städte, die einem permanent zuraunen: „Geh nach Hause, mein Freund, so schnell du kannst, und schließ die Tür hinter dir.“ Und das hat Folgen.
Welche?
Die Stadtplanung der vergangenen fünf Jahrzehnte hat zigtausende Menschenleben gekostet, weil sie einseitig auf motorisierten Verkehr ausgerichtet war und die Menschen in einem Zu-stand permanenter Bewegungslosigkeit hält. Städte, die ihre Bewohner in Bewegung setzen, betreiben ganz nebenbei die billigste Gesundheitspolitik. Wer regelmäßig 10 000 Schritte am Tag geht oder sich anderweitig sportlich betätigt, darf im Schnitt auf sieben zusätzliche Lebensjahre hoffen.
Früher war das ganz anders. Über Jahrhunderte wuchsen Städte in einem langsamen, kontinuierlichen Prozess. Jeder war zu Fuß auf der Straße und im gleichen 5 km /h-Tempo unterwegs, Wege waren überschaubar und Straßen schmal und abwechslungsreich. Mit dem Wirtschaftswunder änderte sich das. Autos eroberten unsere Straßen, das Durchschnittstempo stieg auf 60 km/h, aus Stadt- wurde Verkehrsplanung. Niemand machte sich Gedanken über die Konsequenzen. Heute wissen wir: Um das Leben in einer Stadt zu ersticken, gibt es keine effizienteren Mittel als Autos und Hochhäuser
Warum ist Ihr Thema heute en vogue?
Weil Städte heutzutage nicht mehr mit den breitesten Straßen, der größeren Zahl an Parkplätzen oder dem billigeren Land um Kapital und Köpfe konkurrieren, sondern mit Lebensqualität. Investoren, Unternehmen, Großereignisse und Menschen im Allgemeinen zieht es in unserer globalisierten, transparenten Welt tendenziell in die lebenswerteren Städte. Wer es da wie Kopenhagen schafft, dreimal zur lebenswertesten Stadt des Planeten gewählt zu werden, hat einen enormen ökonomischen Vorteil.
Welchen Vorteil meinen Sie?
Wir im Westen sind an einem Punkt unserer ökonomischen Entwicklung angelangt, an dem wir fast alle ein Dach über dem Kopf, mindestens ein Auto und immer mehr Freizeit zur Verfügung haben. Da fragt man sich irgendwann ganz automatisch: Ist das jetzt der Sinn des Lebens? Und sieht so der Ort aus, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte?
In den boomenden Megacitys Asiens sieht man das anders.
Es scheint, als würden sich in Asien unsere Fehler wiederholen. Der vietnamesische Planungsminister hat mir kürzlich sinngemäß erklärt: Erst sind wir Fahrrad gefahren, dann Mofa. Heute haben wir endlich Autos und sind sehr stolz darauf. Wir müssen jetzt erst einmal eine Zeit lang Auto fahren, bevor wir darüber nachdenken können, zum Fahrrad zurückzukehren.
Was lernen wir daraus?
Dass es unmöglich scheint, eine Periode des Wahnsinns einfach zu überspringen.
Wo aber eine Stadtplanung den Autofahrern Platz wegnimmt, muss sie sich auf gewaltige Proteste gefasst machen.
Deswegen sollte sie behutsam vorgehen. Hier in Kopenhagen hat die Stadtplanung kontinuierlich Jahr für Jahr zwei bis drei Prozent der Parkplatzflächen gestrichen. Auf diese Weise eroberten Radler und Fußgänger die Stadt nicht in einem einzigen brutalen Handstreich, sondern in vielen Trippelschritten. Dies war ein wesentlicher Grund für unseren Erfolg. Denn auf diese Weise war der Umbau zwar stets spürbar, aber nie schmerzhaft.
Das neue Kopenhagen hat neue Probleme. An manchen Kreuzungen brauchen Radler zur Hauptverkehrszeit mitunter drei Ampelphasen, um über die Straße zu kommen. Und in den populären Fußgängerzonen explodieren die Mieten.
Natürlich sind wir gewissermaßen Opfer unseres eigenen Erfolgs. Unsere Fußgängerstraßen ziehen mittlerweile so viele Menschen an, dass die Ladenmieten rasant steigen. Meine Antwort auf dieses Problem lautet: dann baut eben mehr von ihnen.
Das ist aber kein Allheilmittel. In vielen deutschen Innenstädten wurden schon in den 70er Jahren Fußgängerzonen eingezogen, die heute trostlos und verlassen sind. Warum?
Weil die Idee eine andere war. Damals wurden viele Stadtzentren zu Fußgängerzonen umgebaut, weil man Innenstädte in attraktivere Einkaufsmeilen verwandeln wollte. Gleichzeitig aber hat man draußen auf der grünen Wiese Shopping Malls zugelassen. Was ist passiert? Die Leute sind zum Einkaufen in die Shopping Malls und großen Supermärkte gefahren, heute erledigen sie ihre Einkäufe im World Wide Web. Der kleine Juwelier, der Schuhmacher und das Haushaltswarengeschäft sind damit für immer aus den Innenstädten verschwunden. Unsere Städte aber brauchen ein Herz und Händler, die es am Schlagen und seine Gebäude instand halten.
Was also tun?
Wahrscheinlich müssen wir unsere Innenstädte ganz neu denken. Warum stellen wir sie nicht Sportvereinen, Musikclubs oder Bürgerinitiativen zur Verfügung, die bislang wegen hoher Mieten nie dort zu finden waren? Aus unseren Befragungen in Kopenhagen wissen wir, dass ohnehin nur etwa 40 Prozent der Leute primär zum Shoppen in die Innenstadt kommen. Die Mehrheit der Menschen ist hier, weil sie andere Menschen treffen und etwas erleben wollen.
Der Stadtumbau ist teuer und langwierig. Kopenhagen brauchte 40 Jahre bis zur lebenswertesten Metropole der Welt.
Wirklich teuer sind Infrastrukturmaßnahmen wie Schulen, Universitäten, Bibliotheken und U-Bahn-Linien. Im Vergleich dazu kosten Fuß- und Radwege oder Plätze fast gar nichts. Hier kann die Stadt jedes Jahr ein bisschen mehr tun, und jeder kann ihre Fortschritte sofort sehen und nutzen. Das lohnt sich, auch finanziell. Aus unseren Studien wissen wir, dass Kopenhagen heute von jedem in der Stadt geradelten Kilometer netto 23 Cent profitiert. Ein mit dem Auto gefahrener Kilometer hingegen kostet uns unterm Strich 16 Cent.
Wird das alles reichen, um Städte CO2-neutral zu machen?
Kopenhagen wurde 2015 klimaneutral.
Was wird der Bau der Zukunftsstadt kosten?
Das Programm, das ich vorschlage, ist vermutlich das billigste. Wir tun etwas für Radfahrer und Fußgänger. Das heißt: Wir gucken weniger auf Technik, sondern darauf, wer in den Städten lebt – nämlich Homo Sapiens.
Vielen Dank für das Gespräch!
Klaus Reinhardt
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